1. Positiver Zugang zur Schriftsprache
Ziel der Alphabetisierungsarbeit im Generellen ist es, den Lernenden einen positiven
Zugang zur Schriftsprache zu ermöglichen.
Der Unterricht sollte dabei vor dem Hintergrund einer anerkennenden Pädagogik konzipiert sein, die in der Lage ist, emotional negativ besetze Erfahrungen mit Schriftsprache aufzufangen und sie durch neue, positive Erfahrungen zu ersetzen.
Alphabetisierungsunterricht ist im Sinne einer ressourcenstärkenden und zur Eigenständigkeit befähigenden Lehrpraxis immer auch Arbeit
an der Person des Lernenden und am jeweiligen Selbstbild.
2. Didaktik und Schriftsprachvermittlung verknüpfen
Die Alphabetisierungsarbeit in Klassen mit jungen Flüchtlingen erfordert die Kompetenz, die Fremd- bzw. Zweitsprachdidaktik mit der Schriftsprachvermittlung zu
verknüpfen.
Wie in Unterrichtskonzepten für bereits alphabetisierte Schüler*innen
spielt dabei der Faktor Zeit eine wesentliche Rolle. Die Lehrkräfte sind gefordert, den
Klassenverbund als einen sicheren Lernort zu gestalten, an dem die Jugendlichen
sich ganz dem Lernziel Schriftsprach- und Fremdspracherwerb widmen können.
3. Die Lebensbedingungen der Jugendlichen als Grundlage
Grundlage jeglicher Unterrichtskonzeption sollten dabei die Lebensbedingungen der Jugendlichen sein.
Welche sprachlichen Mittel sind für die Jugendlichen besonders
während ihrer Ankunftszeit in Deutschland von Bedeutung? Wie können schulunerfahrene Jugendliche an das System Schule herangeführt werden und wie kann der Unterricht in den restlichen, mitunter durch Behörden- und Arztbesuche reglementierten, Tagesablauf der Jugendlichen integriert werden?
4. Kleine Lerngruppen
Vor allem im Alphabetisierungsunterricht hat sich gezeigt, dass die Lerngruppen so
klein wie möglich sein sollten. Eine Größe von maximal 12 Personen wäre ideal.
5. Nicht mehr als drei Lernkräfte
Wie auch in fortgeschrittenen Klassen hat sich das Vorgehen bewährt, möglichst wenig
unterschiedliche Lehrkräfte in den Klassen einzusetzen.
Vor allem in Alphabetisierungsklassen, in denen einzelne Lernschritte viel Zeit und Wiederholung benötigen, empfiehlt sich der Einsatz von höchstens drei Lehrkräften bei einem Stundenpensum von 25 Unterrichtsstunden pro Woche.
6. Gemeinsame Gestaltung des Klassenzimmers
Für eine gute Atmosphäre empfiehlt es sich, die ersten Tage gemeinsam das Klassenzimmer zu gestalten. Zum Beispiel könnten Plakate mit den Muttersprachen der
Schüler*innen gestaltet werden. Der Wiedererkennungseffekt schafft ein Gefühl des
Willkommen- und Anerkanntseins.
Achten Sie darauf, dass sich alle gleichwertig bei derartigen Projekten einbringen können und niemand aufgrund seiner bisherigen Schrifterfahrungen ausgeschlossen ist.
7. Lernstände ermitteln
Genauso wie in fortgeschrittenen Klassen, ist es für einen guten Unterricht notwendig, die Schüler*innen von Anfang an gut kennenzulernen und ihre unterschiedlichen Lernbiografien und daraus resultierenden Lernstände zu ermitteln. Je genauer dabei Ihre Ausgangsinformationen, desto besser kann der Unterricht auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmt werden.
Neben einem Kennenlerngespräch, das unter Umständen mit einer übersetzenden Fachkraft geführt werden kann, ist es von Bedeutung durch die Übungsformen in den ersten Unterrichtstagen einen Überblick über die schriftsprachlichen und mündlichen Kompetenzen der Schüler*innen zu gewinnen, ohne sie in eine Testsituation zu versetzen. Einfache Schwungübungen verraten beispielsweise schon viel über Stiftgewohntheit und den Umgang mit dem leeren Blatt.
8. Einteilung nach erster Lernstandseinschätzung
Wenn es institutionell möglich ist, sollten die Schüler*innen nach einer ersten Lernstandseinschätzung in Klassen für absolute Deutsch- und Schriftsprachunerfahrene,
bereits sprachlich fortgeschrittene Lernende und Zweitschriftlernende eingeteilt werden.
9. Auf leichte Sprache zurückgreifen
In der Lehrersprache kann zusätzlich auf die Kriterien leichter Sprache zurückgegriffen werden (Nickel 2014: 28):
Lexik
- Leicht verständliche, anschauliche, vertraute oder einfache Wörter
- Abstrakta möglichst umgehen
- Fach- und Fremdwörter, Abkürzungen sowie Redewendungen und Metaphern
vermeiden
Morphologie
- Kurze Wörter benutzen
- Komposita mit Bindestrichen trennen
Syntax und Morphosyntax
- Kurze, einfache Hauptsätze mit jeweils nur einer Aussage
- Perfekt statt Präteritum
- Kein Konjunktiv, kein Genitiv, kein Passiv, keine Nominalisierungen
- Bei Pronomen auf eindeutige Referentialität achten
Die Regeln einfacher Sprache können gerade im Einstiegsunterricht helfen, die Sprache der Lehrkräfte zu strukturieren. Ziel ist es aber nicht, bei der einfachen Sprache zu bleiben! Sie sollte lediglich als Brücke verwendet werden. Wesentlich ist dabei stets eine grammatikalisch korrekte Sprechweise.
10. Kognitive Überlastungssituationen vermeiden
Der Unterricht gerade für absolute Schriftsprach-, Deutsch- und Schulunerfahrene sollte
stets so gestaltet sein, dass wenn möglich kognitive Überlastungssituationen vermieden werden. Denn die Ressourcen der kognitiven Informationsverarbeitung sind bei jeder
Person begrenzt und es kann immer nur eine bestimmte Anzahl von Informationen im
Arbeitsgedächtnis verarbeitet werden:
„Ein beginnender Leser oder eine beginnende Leserin benötigt den überwiegenden Teil seines Arbeitsgedächtnisses zum Erlesen eines Wortes oder eines Textes. Dies ist langsam und anstrengend. Mit zunehmender Übung wird das Lesen immer weiter automatisiert und die Belastung des Arbeitsgedächtnisses reduziert.
Eine geübte Leserin oder ein geübter Leser, der oder die über viele Jahre Lesen geübt hat,
liest völlig automatisiert, ohne sich dessen bewusst zu sein, ohne Auskunft über den Leseprozess geben und ohne diesen unterdrücken zu können“ (Grosche 2011: 38).
Konkret bedeutet dies:
- Schrittweises Vorgehen im Unterricht hat oberste Priorität
- Regelmäßige Wiederholungen sollten fester Bestandteil der Unterrichtsabläufe
sein, um Handlungsabläufe zu automatisieren
- Visuelle Mittel sollten gezielt zur Unterstützung eingesetzt werden, z.B. die Verwendung von unterschiedlichen Farben; der Einsatz von vielen verschiedenen visuellen Reizen zur gleichen Zeit (der Beamer wirft eine Powerpointpräsentation an die Wand, in der mit verschiedenen Farben, viel Schrift und vielen Bilder gearbeitet wird), sollte vermieden werden.
- Um den Prozess sich sinnentnehmenden Lesens zu unterstützen, sollte von Beginn an schrittweise ein Sichtwortschatz aufgebaut werden. Dieser besteht aus Wörtern, die auch ohne Buchstabenkenntnisse erkannt werden. In späteren Lesesituationen entlastet dies das Arbeitsgedächtnis.
11. Auf muttersprachliche Kompetenzen zurückgreifen
Alle Lernenden bringen einen vielfältigen Spracherfahrungsschatz mit in den Unterricht.
Für Unterrichtskonzeptionen sollte überlegt werden, wann und wie auf muttersprachliche
oder andere fremdsprachliche Kompetenzen zurückgegriffen werden kann.
12. Visualisierungen sparsam und bewusst einsetzen
Beim Einsatz von Bildmaterial sollte nicht nur auf optische Überreizung geachtet werden,
sondern auch darauf, dass das Verstehen von Visualisierungen kulturell variieren kann
(visual literacy = Fähigkeit des Bilderlesens) und sich auch schulische Vorbildung auf das
Verstehen von Bildern auswirken kann.
Insbesondere primäre Analphabet*innen haben Probleme mit abstrakten Visualisierungen wie Tabellen oder Zuordnungen. Setzen Sie daher insgesamt Visualisierungen sparsam und bewusst ein (vgl. dazu auch Feldmeier 2010: 68ff.)
13. Auf wertschätzende Rückmeldungen achten
Für Korrektur- und Testsituationen wichtig ist in diesem Zusammenhang stets auf wertschätzende Rückmeldungen vor allem auch in Testsituationen zu achten und konstruktive Fehlerrückmeldungen zu formulieren.
Nehmen Sie Fehler als wesentlichen Bestandteil von Entwicklungsprozessen wahr. Jeder Fehler erzählt etwas über den Lernfortschritt der Lernenden. Bei Korrekturen können beispielsweise Schwerpunkte gesetzt werden anstatt alle Fehler zu markieren. Dies erhält die Motivation aufrecht und erhält die Unbefangenheit am freien Schreiben (vgl. Peikert/Harris Brosig: 68ff.)
Es sollte gemeinsam im Lehrteam überlegt werden, ob überhaupt und wann Tests und Noten als motivierende pädagogische Elemente eingesetzt werden sollten.
14. An den Interessenslagen der Lernenden orientieren
Das Material für den Unterricht sollte sich in seinen Inhalten an den Interessenlagen der
Lernenden orientieren. Das Material sollte zudem authentisch sein, so dass es den Lernenden bedeutungsvoll erscheinen kann. Dies trägt wesentlich zur Aufmerksamkeitssteigerung
bei.
Es bietet sich in diesem Zusammenhang an, die Schüler*innen in die Auswahl der Themen und in die Gestaltung des Materials miteinzubeziehen, z.B. indem sie selbst Bilder oder
kleine Texte mit in den Unterricht bringen.
15. Facettenreicher Unterricht
Der Unterricht sollte den Lernenden möglichst viele Gelegenheiten bieten, mit unterschiedlichen Facetten der Schriftsprachkultur in Berührung zu kommen und ein eigenständiges Interesse am Lesen und Schreiben zu entwickeln. Es sollten nicht nur bedeutsame Schreibanlässe, sondern auch bedeutsame Leseanlässe geboten werden.
16. Alltagsnahe Rede- und Schreibanlässe fördern
Gleichzeitig zum Schriftsprachunterricht sollten alltagsnahe Rede- und Schreibanlässe wie
zum Beispiel: Begrüßen und sich vorstellen, Fahrkartenkauf, Einkaufen, nach dem Weg fragen, Glückwünsche überbringen usw. gefördert und in den Unterricht integriert werden.
17. Vielfältige Sinneszugänge bieten
Bei der Wortschatzarbeit unterstützen vor allem in der Anfangsphase, in der der Wortschatz
zunächst rein mündlich erlernt und memoriert werden muss, vielfältige Sinneszugänge (Sehen, Riechen, Fühlen, Schmecken, Tasten) den Lernprozess.
18. Neue Wörter mit zugehörigem Artikel lernen
Neue Wörter sollten von Beginn an bereits mit zugehörigem Artikel gelernt werden. Dies
kann zunächst mündlich passieren, schon nach kurzer Zeit aber auch in schriftlicher Form.
Wenn notwendig sollten entsprechende Buchstaben dazu früher als im Material vorgesehen
eingeführt werden.
19. Grafomotorische Übungen integrieren
Grafomotorische Übungen sollten nicht nur Bestandteil des Anfangsunterrichts sein, sondern auch regelmäßig im Fortgeschrittenenunterricht wiederkehren. Dies unterstützt nicht nur
stiftunerfahrenen Lernende, sondern auch Zweitschriftlernende.
Je lockerer und entspannter der Umgang mit der eigenen Handführung, desto leichter lassen sich bislang ungewohnte Bewegungsabläufe automatisieren.
20. Die Autonomie der Lernenden fördern
Auch wenn es zunächst schwierig erscheint: Die Lernendenautonomie kann von Beginn an
durch kleine Übungen gefördert werden. Die Lehrkraft sollte Wert auf Selbstkontrollmöglichkeiten in den Übungsformen legen und langsam die Methodenkompetenz der Lernenden aufbauen. Beispielweise kann früh mit dem Führen eines Vokabelhefts begonnen werden.
21. Texte eigenständig verfassen lassen
In Klassen für bereits etwas Fortgeschrittene kann bereits mit eigenständig verfassten Texten an der Rechtschreibung und an der Textkompetenz gearbeitet werden.
22. Die Kriterien leicht zu lesender Sprache nutzen
Bei der Verwendung und Erstellung von Lesetexten kann auf die Kriterien leicht zu lesender Sprache zurückgegriffen werden.
- Kurze Wörter sind am einfachsten zu lesen. Deswegen sollten vor allem kurze Normalwörter verwendet werden
- Zusammengesetzte Wörter sind am schwierigsten zu lesen und sollten im Einstiegsunterricht vermieden werden
- Das, was im Unterricht gelesen werden soll, sollte vorher mündlich beherrscht
werden – der Deutschvermittlung sollte eine große Rolle zugewiesen werden
- Es sollte mit einer kleinen Anzahl von persönlich bedeutsamen Wörter gearbeitet werden, die oft vorkommen.
Weitere Kriterien leicht lesbarer Lektüre nach Sven Nickel finden Sie im PDF zum Download für diesen Beitrag, das Sie hier kostenlos herunterladen können.